Gesichter und Geschichten

Interviews zur Ausstellung
"Vielfältige Zuwanderung im Wartburgkreis"

Fast 160.000 Menschen leben im Wartburgkreis, nur etwas mehr als 8000 davon sind aus anderen Ländern der Welt zugewandert. Mit einem Ausländeranteil von 5,2 Prozent (Thüringer Landesamt für Statistik, Stand: Ende 2021) liegt die Region im thüringenweiten Vergleich im Mittelfeld. Im Hinblick auf Gesamtdeutschland ist der Anteil gering. Und Zuwanderung ist im öffentlichen Leben oft wenig sichtbar.
Ob Arbeitssuche, Flucht vor Krieg und Verfolgung, Familiengründung oder Zufall: Es gibt zahlreiche Gründe, aus denen Menschen migrieren und sich hier niederlassen. Während der Begriff Migration nicht selten mit Vorurteilen behaftet ist, steht doch hinter jedem zugewanderten Menschen ein persönliches Schicksal, eine Geschichte.
Aus Argentinien, Vietnam, Libyen, Kasachstan oder der Ukraine gekommen, haben die Betroffenen bewegende Lebensgeschichten zu erzählen. Diese Schicksale, die Gründe und die Geschichten dahinter werden hier gezeigt – um Zuwanderung im Wartburgkreis in all ihrer Vielfalt sichtbar zu machen.
Die Texte basieren auf ausführlichen Gesprächen, in denen die Protagonisten über ihren Weg nach Deutschland, über Hoffnung, Angst und Zweifel gesprochen haben. Über Chancen, Glück und Zukunft. 
Aus der Welt in den Wartburgkreis image

von Brünn (Tschechien) nach Urnshausen

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Der Weg: Ich war mal bei einer Wahrsagerin, die mir prophezeite, einen ausländischen Mann zu heiraten. Und tatsächlich: Die Liebe hat mich nach Deutschland gebracht – auch wenn ich das Land und seine Sprache bereits kannte. Ich habe in Tschechien auf dem Gymnasium und bei meinem Germanistik-Studium Deutsch gelernt und in jungen Jahren als Au-pair in Berlin und Düsseldorf gearbeitet. Während eines Semesterferienjobs als Kinderbetreuerin in Bayern habe ich meinen Mann kennengelernt, der dort als Sozialpädagoge arbeitete. Seitdem sind wir zusammen. Nach vier Jahren Fernbeziehung habe ich 2005, mit 21 Jahren, meine tschechische Heimat verlassen und kam zu ihm in den Wartburgkreis.
Das neue Leben: Herzukommen war wie eine Wiedergeburt: Ich habe alles hinter mir gelassen, was mich 20 Jahre lang geprägt hat – Freunde und Familie, das soziale Umfeld, die Mentalität. Das war schwierig. Mein Mann war und ist eine wichtige Stütze für mich und hat mir Halt gegeben. Ohne ihn wäre ich wahrscheinlich nicht hiergeblieben. Dennoch habe ich mich damals auf Deutschland gefreut. Ich bin ein extrovertierter Typ, wollte schon immer gern raus von zu Hause. Es hat mich immer gereizt, Neues und anderes zu sehen. Meine Eltern haben das akzeptiert. Und sie wussten schließlich, wo ich hingehe, hatten Vertrauen in mich und schließlich auch ein gutes Verhältnis zu meinem Mann.
Familie: Meine gesamte Familie ist in Tschechien geblieben: Eltern, die Schwester, Cousins. Hier in Deutschland zu sein und sie nicht umarmen zu können, war schwer. Wir haben uns früher Briefe geschrieben und ab und zu telefoniert. Die Kommunikation war nicht so modern, wie wir es heute mit Videoanrufen gewohnt sind. Deshalb besuchten wir uns auch regelmäßig etwa alle drei Monate, um Kontakt zu halten. Interessanterweise habe ich erst durch die Corona-Pandemie und die deshalb geschlossenen Grenzen gemerkt, wie wahnsinnig lieb ich meine Familie habe. Anderthalb Jahre konnten wir uns nicht treffen, weil das Reisen eingeschränkt wurde. Das hat einiges in mir ausgelöst.
Deutschland: Bis zur Corona-Pandemie habe ich mich durchaus als Teil von Deutschland verstanden. Doch in deren Folge ist mir klar geworden, dass viele Menschen hier doch ein etwas anderes Verständnis von manchen Dingen haben. Damit meine ich vor allem Regelhaftigkeit und das strikte Befolgen von Vorgaben. Da bin ich wenig „deutsch“.
Heimat: Heimat ist für mich da, wo meine Familie ist. Meine Tochter ist jetzt zehn Jahre alt, sie wächst zweisprachig auf, versteht sich eher als Deutsche. Und wenn wir von einer Reise nach Deutschland zurückkommen, freue ich mich immer wieder, hier zu sein. Wenn ich mich aber zwischen beiden Ländern entscheiden müsste, würde mein Herz wohl eher Tschechien sagen. Dort also, wo meine Wurzeln sind. Ich könnte mir sogar vorstellen, wieder nach Tschechien zu ziehen – irgendwann, wenn meine Tochter einmal ihre eigenen Wege geht und ich pensioniert bin. Bis dahin besuchen wir die Familie in Tschechien, so oft es geht, und bewahren uns die Kultur. Ich schaue gern alte Filme oder Serien von dort. Wir essen Knödel – und zu Weihnachten gibt es Kartoffelsalat und Karpfen. Das hat Tradition.
Fremdsein: Früher habe ich mich manchmal fremd in Deutschland gefühlt, heute ist das nicht mehr so. Mein Mädchenname zeigt beispielhaft die Tragik des Ganzen: Ich hatte ihn nach der Hochzeit zunächst behalten, er klingt deutlich slawisch und ist Teil unserer Familientradition. Aber wenn ich in Deutschland telefoniert und dabei den Nachnamen gesagt habe, fing mein Gegenüber plötzlich an, langsamer und anders zu sprechen. Obwohl ich selbstverständlich alles verstanden habe. Das hat mir das Gefühl gegeben, nicht angenommen zu werden, nicht dazuzugehören und auch nicht alles gesagt zu bekommen. Außerdem war ich genervt davon, dass ich den Nachnamen immer wieder buchstabieren musste. Schließlich habe ich ihn abgelegt und so mit der Familientradition gebrochen.
Chancen: Eine der schönsten Erfahrungen in Deutschland war die Geburt meiner Tochter. Davon abgesehen bin ich grundsätzlich froh, dass in meinem Leben bisher immer alles gut gelaufen ist. Insgesamt stimmt alles, ich habe stets Anerkennung bekommen und durch Fleiß und Genauigkeit viel erreicht. Denn Chancen kommen hier nicht einfach so; man muss sie sich nehmen und sich bemühen. Freunde und Kollegen schätzen mich, das ist sehr bedeutungsvoll für mich. Es ist etwas, das man im Alltag heute oft gar nicht mehr so richtig wahrnimmt. Im Rückblick aber ist das schon besonders. Ich bin ein ziemlicher Glückspilz, denke ich.

Alexandra Hollenbach (40) aus Urnshausen ist Grundschullehrerin. Sie hat in ihrem Heimatort Brünn Deutsch studiert und sich mit 21 Jahren entschlossen, zu ihrem Ehemann nach Deutschland zu ziehen. Sie tanzt, liest und putzt gerne und reist regelmäßig zu den Eltern ins Nachbarland.

von Buenos Aires (Argentinien) nach Thal

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Der Weg: Ich glaube an Bestimmung – es kommt, wie es kommen soll. Als ich mit 30 Jahren noch in Buenos Aires gelebt habe, bin ich gern in die Disco gegangen. An einem Samstagabend habe ich dort meinen heutigen Mann getroffen. Er war aus Deutschland für ein Arbeitsprojekt in Argentinien zu Gast. Und wir haben uns kennen- und lieben gelernt. Ich hatte gerade mein Jurastudium abgeschlossen und war bereit für etwas Neues. Und musste gar nicht überlegen: Ich kam mit zu ihm nach Hause, nach Thal – wo wir seit Mitte der 1990er-Jahre zusammenleben.
Die Ankunft: Es war Hochsommer in Argentinien, und ich kam nach Deutschland – bei minus 17 Grad – in die Rennsteigregion. Das war schlimm, das Wetter ein Schock. Aber der einzige, denn alles andere war schön. Ich konnte kein Wort Deutsch, als ich ankam, und habe mit meinen Schwiegereltern mithilfe kleiner Notizzettel kommuniziert. Man musste eben so zurechtkommen. Anfangs gab es immer Klöße, jeden Sonntag. Für mich war das gewöhnungsbedürftig. Bald wurde ich schwanger, und das war das Zeichen für uns, dass wir uns hier niederlassen und bald ein Haus bauen würden.  
Identität: Deutsche oder Argentinierin? Ich bin beides. Deutsche, weil ich sehr viel hier gelernt habe. Ich habe meinen Führerschein gemacht, Schwimmen gelernt, Arbeit gefunden. Ich habe immer das Glück gehabt, dass die Dinge zu mir gekommen sind. Anfangs habe ich mit Spanisch-Unterricht bei der Volkshochschule ausgeholfen, heute unterrichte ich Spanisch an der Dualen Hochschule Gera- Eisenach und Deutsch als Zweitsprache an der Berufsschule in Eisenach. Ich habe mehrere Jahre ehrenamtlich Geflüchteten Deutschunterricht gegeben – weil ich mich auch mit diesen Menschen identifiziere und etwas zurückgeben wollte von allem, was ich hier bekommen habe. Wenn ich in Argentinien bin, bin ich Argentinierin. Und ich erhalte mir diese Kultur auch hier zu Hause. Bei Arbeiten im Haus oder beim Autofahren höre ich spanische Musik, immer. Weil sie gefühlvoll ist. Ich habe das Bild einer argentinischen Flagge auf dem Autodach. Und das beste Essen ist Fleisch – gerne ein ordentliches Steak – mit Salat. Wie in Argentinien. Da bin ich glücklich, und ich brauche auch keine Kartoffeln dazu.  
Argentinien: Da ich allein nach Deutschland kam, sind meine Mutter und Schwester, mein Schwager, meine Neffen und so viele Freunde auch heute noch in Argentinien. Und vor allem: Eine ganze Menge Erinnerungen und Gefühle sind noch da. Ich fliege regelmäßig hin – und bleibe so lange wie möglich. Urlaub ist das nicht, denn ich will alle Leute besuchen, aber meine Liebsten wohnen nicht alle nah beieinander. Argentinien ist ein großes Land, ich muss dort also viel reisen. Manchmal bis zu 1200 Kilometer.  
Heimat: Heimat ist zum einen da, wo ich geboren bin, wo meine ersten Gefühle und Erinnerungen liegen. Wenn ich Argentinien heute besuche, treffe ich manchmal Freunde, die ich jahrelang nicht gesehen habe. Aber wenn wir uns unterhalten, fühlt es sich an, als hätten wir uns erst gestern getroffen. Dieses Gefühl, dass du mit diesen Menschen verbunden bist – auch das ist Heimat. Aber: Was die Lebenswelt angeht, fühle ich mich auch in Deutschland beheimatet. Pünktlichkeit etwa war mir schon immer wichtig und auch das Gefühl von Sicherheit, das ich hier habe. Das ist in Argentinien heute schwerer zu finden. Und: Mein Mann, Sohn, Enkel und die Schwiegereltern sind hier. Familie - das ist eben auch Heimat.  
Erfahrungen: Ich habe mich hier nie fremd gefühlt. Und bin nie diskriminiert worden. Alle haben mich sehr gut aufgenommen und mit offenen Armen empfangen: die Schwiegerfamilie, der Freundeskreis meines Mannes. Aber weil ich selbst nie negative Erfahrungen gemacht habe, heißt das nicht, dass es so etwas nicht bei anderen Migranten gibt: Einer Bekannten, die Germanistik studiert hat, perfekt Deutsch spricht und super integriert ist, wurde offensichtlich nur wegen ihres andersklingenden Nachnamens eine Mietwohnung verwehrt. So etwas ist schon sehr verwunderlich. Schwierig war für mich eigentlich nur eins: Die Geburt meines Sohnes hier. Denn da habe ich mich sehr allein gefühlt. Wenn man in Argentinien ein Kind bekommt, ist das ein Großereignis für die gesamte Familie. Mutter und Schwestern sind die ganze Zeit bei dir – selbstverständlich auch im Krankenhaus. Diese Intimität hat mir gefehlt. Und es war sehr ungewöhnlich für mich, neben fremden Menschen im Krankenhausbett zu liegen, niemanden von der Familie bei mir zu haben. Mein Mann konnte nicht bei mir bleiben nach der Geburt. Dinge, die für die Menschen in Deutschland vielleicht nicht ungewöhnlich sind. Mich haben sie aber betrübt. Weniger schlimm, aber kurios, war die Erfahrung im Kindergarten. Die Erzieherin gab unserem Sohn morgens die Hand und begrüßte ihn mit einem „Hallo“. In Argentinien läuft das ganz anders: Da werden die Kinder zur Begrüßung geknuddelt und geknutscht ohne Ende.

Laura Garmendia-Bartholdy (57) aus Thal arbeitet als Dolmetscherin, Übersetzerin und Lehrerin für Spanisch an der Dualen Hochschule Gera-Eisenach und der Berufsschule Eisenach. Die studierte Rechtsanwältin ist in der Großprovinz Buenos Aires nahe der gleichnamigen Hauptstadt geboren und aufgewachsen. Sie liebt den Blick vom Balkon ihres Hauses und ist sicher: Wenn man nicht so viel über die Dinge nachdenkt, trifft man eine gute und richtige Entscheidung.

von Damaskus (Syrien) nach Kieselbach

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Der Weg: Mit 20 Jahren bin ich aus meiner Heimat Syrien geflohen und im September 2015 in Deutschland angekommen. Der Weg hierher war schwierig. Körperlich, aber vor allem seelisch. Von der Hauptstadt Damaskus fuhr ich mit dem Bus an die Grenze zur Türkei. Es gab einen Wald mit einem großen Graben, der die Grenze markierte. Wir haben gehört, dass die Soldaten dort auf Flüchtlinge schießen würden. Also rennen und es entweder schaffen – oder tot sein. Zwei Kilometer weit. Das war hart. Aber ich habe es geschafft. In der Türkei angekommen, mussten wir uns vor der Polizei verstecken. Zwei Tage im September, es war schon sehr kalt. Dann ging es per Boot aufs Meer nach Griechenland. Und weiter über Land: Albanien, Nordmazedonien, Serbien. Für die Schleuser waren wir lediglich Geldbeträge, keine Menschen. Ein Flüchtling gleich 1000 Euro. Manchmal 2000. Dann Ungarn. Dort war die Polizei besonders brutal und die Angst groß. Ich habe nie gedacht, dass ich im Leben einmal auf der Straße an einem Bahnhof schlafen müsste. In Budapest war es so weit. Tausende Flüchtlinge kampierten dort wie ich, aßen und wuschen sich in aller Öffentlichkeit. Auf der oberen Etage des Bahnhofsgebäudes schlenderten die Passagiere vorbei und schauten auf die Flüchtlinge herab. Das war schlimm, diese Woche hat mich kaputtgemacht. Dann fuhr der Zug nach Deutschland. Ich bin hier angekommen und war sehr, sehr müde.
Deutschland: Wenn man etwas will und dafür etwas tut, schafft man alles. Das habe ich in Deutschland erfahren. Ich habe als Verkäufer in einem Elektrofachgeschäft gearbeitet – nach sechs Monaten im Land, ohne einen Sprachkurs absolviert zu haben. Ich habe selbstständig gelernt. Und mich dann auf einen Ausbildungsplatz als Verwaltungsfachangestellter bei der Kreisstadt beworben. Einfach war das nicht, aber ich bin stolz darauf, dass es geklappt hat. Hier habe ich viel mit Gesetzen und Menschen zu tun. Das ist herausfordernd, aber gut. Wie ich darauf gekommen bin? Als Flüchtling in Deutschland angekommen, war ich ständig mit Gesetzen konfrontiert. Immer ging es um Recht, und ich habe nichts verstanden. Da dachte ich: Warum nicht mit so etwas arbeiten und es dadurch lernen. Ich liebe Deutschland und sehe meine Zukunft hier.
Heimat: Es ist kompliziert. Ich bin Palästinenser und deshalb sozusagen bereits als Flüchtling auf die Welt gekommen. Geboren wurde ich in Syrien. Also dort, wohin mein Großvater 1948 nach dem Krieg von Palästina aus flüchten musste. Eine offizielle syrische Staatsangehörigkeit hat niemand in der Familie je bekommen – also auch ich nicht. Ich bin demnach zwar Syrer, weil ich in dem Land aufgewachsen bin mit all meinen Kindheits- und Jugenderinnerungen und meine Freunde noch heute dort leben. Doch Palästina ist die Heimat in meinem Herzen. Auch wenn ich dieses Land tatsächlich nie gesehen habe.
Der Krieg: Ich habe Syrien wegen des Bürgerkriegs verlassen. Viele Menschen dort haben durch ihn ihre Würde verloren. Armeeangehörige wollen das Leben bestimmen, gängeln die Menschen. Neben meinem Studium habe ich als Elektriker an Telefonanlagen gearbeitet und musste dafür durchs ganze Land fahren. Als ich einmal spätabends von einer Reise zurückkam, waren Soldaten in unserem Haus und schlugen mich. Weil sie mich wohl für verdächtig hielten. Da sagte ich mir: Nein, das geht nicht mehr. Meine Eltern haben mir vertraut. Sie haben nicht gesagt: Bleib hier. Es war im August 2015. Ich wollte einfach nur weg und sicher sein. Egal, wo. Freunde von mir waren bereits in Deutschland. Deshalb habe ich mich entschieden, dorthin – nach Mitteleuropa – zu gehen. Syrien ist ein schönes Land. Leider ist es zerstört. Ich könnte jetzt nicht zurückgehen. Und das macht mich sehr traurig.
Herausforderungen: Anfangs war es hier sehr schwer, mit der deutschen Sprache zurechtzukommen. Kaum jemand kann oder will Englisch sprechen, Antworten kamen meist auf Deutsch, das war schwierig. Auch, weil ich als quasi Staatenloser während der Anfangszeit in der Flüchtlingsunterkunft zunächst keinen Sprachkurs bekam. Also habe ich selbst gelernt – jeden Abend unter der Lampe am Eingang unserer Unterkunft in Tiefenort – und so alle nötigen Kurse bestehen können. Darüber hinaus habe ich kaum schlechte Erfahrungen, etwa mit Diskriminierung, gemacht. Bei der Arbeit als Verkäufer spürte ich zwar ab und zu, dass Leute nicht gerne von mir bedient werden wollten. Doch damit konnte ich umgehen, weil ich hier in Deutschland angekommen war und glücklich bin. Aber: Wenn ich an meine Kindheit und Familie denke, fühle ich mich fremd hier. Weil ich allein bin.
Zukunft: Nur eine Woche in Deutschland hat mir gereicht, um zu wissen, dass die Flucht hierher die richtige Entscheidung war. Und inzwischen bin ich ein Teil von Deutschland, hier habe ich mein Leben wiedergefunden. Ausbildung, Arbeit, Führerschein und Ersparnisse – all das habe ich erreicht. Ich halte heute noch Kontakt zu meinen alten Freunden und Großeltern, die in Syrien geblieben sind. Wir telefonieren. Auch meine Schwester mit ihren zwei Kindern ist dort. In meinem Zuhause hier lebe ich die arabische Kultur: Ich habe Fotos von Syrien aufgehängt, koche arabisches Essen, höre Musik. Meine deutschen Arbeitskollegen mögen den Austausch – etwa, wenn ich ihnen Baklava, eine orientalische Süßigkeit, mitbringe. Ich bewahre meine eigene Kultur und gebe sie weiter. In Deutschland findet man von allem etwas. Ob indisch, arabisch, amerikanisch, asiatisch – viele sind da, selbst im Wartburgkreis. Und hier haben wir den Vorteil, dass Ausländer alle zusammen eine große Multikulti- Gruppe sind. Nicht wie in großen Städten, wo jede Kultur ihre eigenen Räume hat. Es wäre schön, wenn wir uns noch besser vernetzen und sichtbar sein könnten.  

Amjd Hamzat ist 26 Jahre alt und wohnt in Kieselbach. Mittlerweile hat er die deutsche Staatsbürgerschaft und ist stolz darauf. Er spielt Fußball und reist gerne. In seiner alten Heimat
studierte er Wirtschaftswissenschaften. Seine Eltern sind ebenfalls vor Jahren vor dem Bürgerkrieg geflüchtet und leben heute in den Niederlanden. Dort besucht Amjd sie regelmäßig.

von Ibarra (Ecuador) nach Immelborn

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Vergangenheit: Als ich zwei Jahre alt war, gingen meine Mutter und mein Vater in die USA, um dort Geld für die Familie zu verdienen. Ich blieb bei meinen Großeltern in der Stadt Ibarra und wuchs bei ihnen auf. Meinen Vater habe ich nie wiedergesehen, denn meine Mutter kam fünf Jahre später allein zurück nach Ecuador. Aber sie war mir fremd. Es war eine schwere Zeit. Meine Großeltern hatten eine harte Existenz, sie lebten wie Leibeigene als Bauern und arbeiteten ohne Lohn auf den Feldern von Großgrundbesitzern.
Die Lebensaufgabe: Mit 13 Jahren ging ich in ein bekanntes Holzschnitzerdorf in der Nähe, um den Bildhauerberuf zu erlernen. Mein Großvater war mein Vorbild – er konnte weder lesen noch schreiben, aber er schnitzte wundervolle Darstellungen mit Buchstaben und Ornamenten. Nur mit seinem kleinen Taschenmesser bearbeitete er das Holz. Meine Ausbildung war der Beginn einer Leidenschaft und meines Lebenswerks. Ich habe im Anschluss als Bildhauer gearbeitet, meine Skulpturen verkauft und eigenes Geld verdient. Danach folgten das Abitur und – einige Jahre später – ein Lehrerstudium. Mir öffnete sich eine neue Welt: Bücher lesen, philosophieren und mich mit den Lehrerkollegen austauschen. Mit meinem Wissen konnte ich im Dorf im Dschungel Ecuadors Kinder in Mathe, Naturkunde und Spanisch unterrichten.
Der Weg: Die Bildhauerei war und ist das Zentrum meines Lebens. Sie macht mich glücklich. Es ist egal, welchen Beruf man hat, solange man glücklich ist. Ich habe mich fortgebildet im Modellieren, Malen und grafischen Gestalten, bin Meister geworden und habe an der Schnitzschule Jüngeren das Handwerk beigebracht. Oft waren Besucher aus dem Ausland da, die unsere Kunst schätzten und kauften. Irgendwann kam ein Mann aus Deutschland und fragte, ob ich an seine neu gegründete Schnitzschule in der Nähe von Kaiserslautern komme, um dort zu unterrichten. So kam ich zum ersten Mal nach Deutschland. Ich war 35, und Europa war immer mein Traum. Ich reiste an den Wochenenden durch die Lande, um Museen zu besuchen – Deutschland, Italien, Frankreich, die Niederlande, selbst bis Moskau kam ich.
Die Rückkehr: Nach zwei Jahren endete mein Vertrag, und ich ging zurück nach Ecuador. Nur kurz, wie sich zeigte. Denn eine Frau aus Deutschland kam zu mir, um Schnitzen zu lernen. Wir verliebten uns, und ich folgte ihr kurz darauf wieder nach Deutschland, wo wir schließlich heirateten und zwei Kinder bekamen. Ich arbeitete wieder als Bildhauer, in dem Beruf, den ich am meisten liebe. Es war eine gute Zeit – bis es der Branche irgendwann immer schlechter ging. Dann verlor ich meine Anstellung und machte mich selbstständig. Es folgten schwierige Jahre, beruflich und privat, und schließlich zog ich – wieder alleinstehend – jahrelang durch Deutschland und die Welt, um zu arbeiten. Bis ich ein weiteres Mal im Leben großes Glück hatte und mich ein Bildhauerkollege auf die Arbeit mit der Kettensäge brachte. Seitdem schaffe ich viele Skulpturen auf diese Weise und habe damit internationale Auszeichnungen gewonnen. Das Ganze hat mir die Möglichkeit gegeben, zu reisen, neue Kulturen auf der Welt kennenzulernen, viele Freundschaften zu schließen und mit den Kollegen Erfahrungen auszutauschen. Die Kettensägenkünstler bilden weltweit eine große Familie.
Der Wartburgkreis: Lange bin ich noch nicht hier im Wartburgkreis. Aber ich hatte durch die Arbeit bereits Kontakte in die Region, kannte Kollegen und Freunde, etwa aus dem Rhöner Schnitzerdorf Empfertshausen oder durch meine Teilnahme an Holzbildhauersymposien in Bad Salzungen. Auch meine jetzige Lebensgefährtin, die von hier kommt, kenne ich schon länger durch die Szene. Also stand bald der Entschluss fest, mich hier niederzulassen. Es ist schön, die Menschen sind sehr aufgeschlossen, ich habe guten Kontakt zu sehr vielen Leuten. Und die Region bietet so viele schöne Dinge, die man machen kann. Das ist etwas ganz Besonderes.
Unterschiede: Es gibt so viele Kontraste im Leben. Jetzt bin ich hier – doch wenn ich zurückdenke an die Zeit, in der ich als Lehrer in Ecuador im Dschungel Kinder unterrichtet habe, kommt mir das wie eine völlig andere Welt vor. So war auch meine erste Ankunft in Deutschland: Ich konnte damals kein Wort der Sprache, war weg von meiner Familie, es herrschte eine ganz andere Kultur. Vieles versteht man am Anfang nicht und macht Fehler. Wir in Ecuador sind sehr kommunikativ, wir lachen viel und nehmen die Zeit locker: Wenn man rausgeht, etwa, um etwas zu einzukaufen, bleibt man vielleicht an der Straßenecke bei Bekannten hängen und quatscht sich fest. Dabei vergisst man schnell die Zeit und am Ende sogar, dass man überhaupt etwas besorgen wollte. Für einen Schwatz muss schließlich immer Zeit sein. In Deutschland sind viele Dinge anders.
Engagement: Es hat fünf harte Jahre gedauert, bis ich richtig angekommen war. Anfangs habe ich geweint und wollte zurück. Doch die Liebe zu meiner Frau damals und zu meinen Kindern hat mich hier gehalten. Und: Irgendwann, noch während der Zeit in Süddeutschland, freundete ich mich mit einer Frau aus Chile an. Sie war ebenfalls als Südamerikanerin nach Deutschland migriert. Und irgendwann sagte sie zu mir: Nun sind wir hier, und wir müssen es eben irgendwie schaffen. Wir stellten ein Radioprogramm auf Spanisch auf die Beine, das ein lokaler Radiosender ausstrahlte. Viele Leute waren begeistert, hörten die Sendung und riefen live an, um mit uns auf Sendung zu sprechen. Unser Leben hat sich dadurch geändert. Wir sind noch aktiver geworden, haben einen Kulturverein für Lateinamerikaner gegründet, um gemeinsame Events zu veranstalten. An den Wochenenden wurde Salsa getanzt. Brasilianer, Kubaner, Mexikaner – 170 Mitglieder waren wir.
Wurzeln: Ich denke zwar, wo ich bin, muss ich mich irgendwie anpassen. Aber hier in Deutschland habe ich auch meine eigene ursprüngliche Kultur wiedererkannt. Und festgestellt, dass es die eine, perfekte Kultur gar nicht gibt. Stattdessen sollte man sich auf das Beste von allen konzentrieren. Menschen sind unterschiedlich, und alle sollten respektiert werden. Dann darf man auch erwarten, dass man selbst akzeptiert wird. Mir ging es in Deutschland stets so. Ich habe nur positive Erfahrungen gemacht und hatte nie ein Problem – mit einer einzigen Ausnahme: Als ich einmal mit Bekannten in einer Kneipe war, wurden wir von einer Gruppe mit Bierdeckeln beworfen. Es waren Neonazis, die uns beleidigen und provozieren wollten. Also bezahlten wir und gingen wieder. Noch heute fliege ich regelmäßig nach Ecuador. Ich habe weiter meine festen Verbindungen dorthin, organisiere Symposien, leite Schnitzkurse mit der Kettensäge. Mein Meister ist nun 97 Jahre alt. Ich möchte ihn unbedingt noch einmal besuchen. Seit ich in Deutschland bin, sehe ich, was Ecuador für ein schönes Land ist. Die Menschen kennen ihre eigenen Stärken noch nicht. Viele denken, dass die USA und Europa besser sind, und imitieren deren Kultur. Eine wirkliche Identität als Ecuadorianer haben wir eigentlich nicht – aber wir haben Wurzeln, die viel älter sind und von den indigenen Kulturen der Inka und noch früherer Völker kommen. Daran sollte man anknüpfen, etwa an die wichtige Verbindung, die diese Vorfahren einst mit der Natur hatten, und die besseren Gesellschaftssysteme.
Heimat: Es gibt den Ort, in dem man geboren wurde, mit einer Sprache, Kultur und Familie, in die man hineinwächst. Und es gibt Orte, an die man kommt und dort eine neue Chance im Leben erhält. Beides ist Heimat. Ich könnte morgen nach China fliegen und auch dort Heimat finden. Wichtig ist die Erfahrung im Leben – wer viel macht, stärkt Kopf und Herz. Ich denke, ich habe viele Erfahrungen gemacht und viel erlebt, wofür ich dankbar bin. Wenn mich aber jemand fragt, ob meine Heimat Deutschland oder Ecuador ist – ganz ehrlich: Ich weiß es nicht. Wenn ich hier bin, möchte ich nach Ecuador reisen. Wenn ich dort bin, habe ich Sehnsucht nach Deutschland. Beides ist Heimat.

Ricardo Villacis (70) ist Bildhauermeister und Lehrer, er malt und schreibt Gedichte. Gerade arbeitet er an seiner Autobiografie und reflektiert über sein Leben. „Früher war ich der Meinung, dass Vergangenheit vergangen ist. Aber jetzt entdecke ich das Interesse an meiner eigenen Geschichte und Kultur“, sagt er. In Barchfeld-Immelborn hat er Arbeitsräume für seine Holzkunst – neben Bildern sind dort sehr viele beeindruckende Holzskulpturen zu finden.

von Agra (Indien) nach Vacha

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Heimat: Ich habe eine alte Heimat und eine neue Heimat. Die alte ist Indien. In meiner Geburtsstadt Agra steht das Taj Mahal – das in der ganzen Welt bekannte Bauwerk aus weißem Marmor. Meine Mutter lebt heute noch dort. Auch ein Bruder, Onkel und Tanten sowie weitere Verwandte. Ich reise hin, sooft es möglich ist. Dann besuche ich auch alte Freunde aus Schul- und Collegezeiten. Meine neue Heimat ist Deutschland. Ich bin 1991 hergekommen, um ein neues Leben anzufangen. Ich wollte raus aus meiner Welt und etwas Neues, anderes erleben. Für Deutschland habe ich mich entschieden, weil es – einfach gesagt – ein gutes Land ist. Es gibt Sicherheit, viele Möglichkeiten, Arbeit, eine starke Wirtschaft, faire Gesetze und Regeln. Meine Familie und ich genießen die Freiheit hier.
Das Leben: Meine tatsächliche Heimat ist allerdings weder Indien noch Deutschland – sondern dort, wo meine Familie, meine Arbeit und meine Gäste sind. Ich bin Gastwirt und habe mir hier in Vacha über viele Jahre eine Existenz aufgebaut. Ich arbeite die ganze Woche über in meinem Restaurant, es ist der Mittelpunkt meines Lebens. Viele Menschen kennen und schätzen uns, auch der Kontakt zur Stadt und zu ihren Vertretern ist sehr gut. Wir fühlen uns wirklich wohl hier. Meine Tochter besucht das Gymnasium, ihr stehen viele Möglichkeiten offen, sie kann studieren. Mein Sohn hat die Schule bereits abgeschlossen und sammelt Arbeitserfahrung. Es geht uns gut – und das ist wichtig. Unsere Heimatkultur pflegen wir, indem wir Kontakt zur Familie nach Indien halten, telefonieren und indisches Fernsehen gucken. Und selbstverständlich mit unserer Gaststätte selbst: Wir bieten indisches Essen, das unsere Gäste sehr schätzen. So soll es bleiben. Gesundheit und Zufriedenheit – das ist unser Wunsch für die Zukunft.

Ravinder Pal Singh (56) betreibt eine Gaststätte in Vacha. Er sagt, diese sei seine Arbeit und zugleich sein Hobby. Denn er verbringt die meiste Zeit dort, als Gastronom, aber baut sein Gasthaus auch Schritt für Schritt aus.

von Mykolaiv (Ukraine) nach Oechsen

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Der Krieg: Am 23. Februar feierte ich noch mit Freunden und Familie zusammen meinen Geburtstag. Am nächsten Morgen um 5 Uhr hörten wir Sirenen, und der Krieg ging los. Wir verließen die Stadt und fuhren zu den Eltern aufs Land. Dort war es genauso schlimm – russisches Militär war unterwegs, es fielen immer wieder Schüsse. Viele Flugzeuge kreuzten die Region und warfen Bomben ab. Unser Nachbar wurde getötet, wir mussten in den Bunker. Manchmal den ganzen Tag über. Das war kaum auszuhalten. Als wir an einem Tag wieder aus dem Untergrund kamen, war eine Rakete direkt in unserer Straße eingeschlagen und hatte Häuser zerstört – nur 50 Meter von dem meiner Eltern entfernt. Dieser Schock ist unbeschreiblich gewesen. Meine Schwester und ich kehrten wieder zurück in die Stadt, wo auch gekämpft wurde. Bald hatte die ukrainische Armee die russischen Angreifer verdrängt. Doch es blieb gefährlich draußen. In den Straßen standen Panzer. So etwas kannte ich bis dahin nur aus dem Museum und Geschichtsbüchern. Ich hätte nie gedacht, dass es tatsächlich zum Krieg kommt. Selbstverständlich haben wir zuvor die Nachrichten verfolgt; Menschen haben geraten, wichtige Dokumente und ein paar Klamotten zu packen und bereit zu haben. Doch wir leben im 21. Jahrhundert – tatsächlich Krieg? Das war eigentlich unvorstellbar.
Die Flucht: Meine Schwester, unsere Mutter und ich sind gemeinsam aufgebrochen. Es war nicht einfach, wegzukommen. Der Bahnhof in Mykolaiv war zerstört. Deshalb wollten wir per Bus los nach Moldawien zu Bekannten. Wir kamen nur bis Odessa. Von dort ging es wieder in die andere Richtung nach Lemberg im Westen – in ständiger Angst, denn es ist gefährlich, auf den Straßen der umkämpften Gebiete unterwegs zu sein. Wir wollten nach Westen. Dorthin, wo nicht gekämpft wird. Dann erreichten wir Polen, kamen in ein Auffanglager und konnten dann weiter nach Berlin. Dort wussten wir nicht, was wir tun sollten. Freunde von uns haben uns schließlich auf den kleinen Rhönort Oechsen gebracht, den sie kannten.
Deutschland: Es leben bereits mehrere aus der Ukraine geflohene Menschen in Oechsen, vielleicht zwei Dutzend. Am 11. März kamen wir an und hatten anfangs große Angst. Doch wir fühlten und fühlen uns hier sicher, und das ist wichtig. Wir haben sehr gute, hilfsbereite und freundliche Leute getroffen – besonders unsere Gastgeber. Es ist unglaublich und ich habe keine Ahnung, warum und wie sie das tun. Sie haben uns geholfen, Arbeit zu finden. Sie haben versucht, uns zu verstehen, trotz Sprachbarriere. Es ist harte Arbeit, doch inzwischen lernen wir sogar voneinander. Und wir kochen zusammen, am liebsten ukrainisches Essen, oder wandern und haben auch schon Kirchenkonzerte besucht zur Unterstützung der Menschen in der Ukraine. Das war sehr berührend. Wenn ich die Sachen auf Deutsch manchmal nicht verstehe, fühle ich mich durchaus fremd. Beim Busfahren etwa hier auf dem Land: falsche Zeit, falsche Haltestelle – nicht immer klappt es. Und dann wartet man ewig umsonst. Das kannte ich bisher nicht. In meiner Heimatstadt leben eine halbe Million Menschen, Busse fahren dort eigentlich jederzeit. Am schwierigsten ist die Situation für unsere Mutter. Sie ist eine alte Frau, versteht weder Englisch noch Deutsch und kann sich im Alltag überhaupt nicht verständigen. Das ist – neben all ihren großen Sorgen um das Zuhause in der Ukraine – wohl das Schlimmste und eine unerträgliche Situation für sie. Aber: Mutter ist Optimistin. Und tatsächlich hat sie hier im Ort eine Frau getroffen, die Russisch spricht. Zumindest mit ihr kann sie sich unterhalten.
Heimat: Wir verfolgen am Morgen zuerst die neuesten Nachrichten aus der Ukraine. So fängt jeder Tag an. Unser Vater ist in unserem Heimatdorf geblieben – er wollte das Haus nicht verlassen. Wir machen uns riesige Sorgen um ihn und rufen jeden Tag an. Manchmal klappt die Verbindung, manchmal nicht. Mit den anderen Ukrainern hier in Oechsen treffen wir uns ab und zu, lernen Deutsch, reden miteinander. Außerdem gibt es viel Bürokratie zu bewältigen, seit wir hier sind. Wir möchten wieder zurück nach Hause, aber es ist unmöglich zurzeit. Mykolaiv wird heftig bombardiert. Doch die Hoffnung bleibt, wir wissen, dass die Ukraine am Ende im Krieg siegen wird. Einen anderen Weg gibt es nicht. Denn die Ukraine, das ist unsere Heimat. Der Ort, an dem man sich wohlfühlt, wo die Familie und Freunde sind. Wo man leben möchte und eine Zukunft sieht.

Hanna Yakymchuk (37) und ihre Schwester Tanja sind Journalistinnen. Nach Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine flohen beide gemeinsam mit ihrer Mutter Sasha. Sie arbeiten hier inzwischen als Lehrerinnen für ukrainische Kinder, verfolgen das Geschehen in der Ukraine weiter und berichten in einem Online-Magazin darüber. Beide sind sicher, dass sie zurückkehren werden und der Krieg endet. Die Frage ist nur: Wann?

von Aden (Jemen) nach Eisenach

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Vergangenheit: Eigentlich habe ich zwei Migrationsgeschichten. Denn ich wurde in Magdeburg geboren, kam also bereits als Deutsche zur Welt. Mein Vater hatte in der DDR studiert und meine Mutter dort kennengelernt. Ich war fünf Jahre alt, als sein Aufenthalt endete und unsere Familie zusammen in sein Heimatland Jemen ging. Dort wuchs ich auf.
Integration: Anfangs sprachen wir zusammen noch Deutsch. Als sich meine Eltern später trennten, veränderten sich die Dinge. Meine Mutter blieb in Jemen, heiratete erneut und lernte die Sprache des Landes, jemenitisches Arabisch. Das sprachen wir dann auch zu Hause. Ich habe als Kind den Integrationsprozess meiner Mutter genau verfolgt: Sie begann, als Lehrerin zu arbeiten, konvertierte zum Islam, änderte entsprechend ihren Namen und kleidete sich, wie es Frauen in der Region traditionell tun. Auch das Kopftuch gehörte dazu. Kleine kulturelle Eigenheiten hatte sie sich dennoch aus ihrer Heimat DDR erhalten und uns mit auf den Weg gegeben – etwa das Einhalten einer Hausordnung inklusive Treppe putzen. Obwohl es in Jemen so etwas wie Hausordnungen nicht gab.
Abschied: 2011 brach in Jemen der Bürgerkrieg aus, nachdem sich die politische Situation immer mehr verschlechtert hatte. In der Stadt, in der meine Mutter arbeitete, war die Terrorgruppe Al-Qaida unterwegs. Einer der Söldner, ein Schulkamerad meines Bruders, gab uns zu verstehen, dass meine Mutter in Gefahr sei. Weil sie einer der letzten verbliebenen Ausländer war. Es hieß, sie könnte ermordet werden. Also kehrten wir 2013 zusammen zurück nach Deutschland. Ich reiste mit meinem deutschen Pass ein und hatte nun – viele Jahre später zurück in Deutschland – meine eigenen Kinder dabei.
Identität: Meine Mutter hat damals alles getan, um anerkannter Teil der jemenitischen Gesellschaft zu sein – und doch blieb sie immer eine Fremde. Das hat mich sehr geprägt. Ich denke heute, dass man sich mit seiner Identität, egal, wie diese aussieht, in eine Gesellschaft integrieren kann. Ich fühle mich als Jemenitin, auch wenn ich Deutsche bin. Ich trage ein Kopftuch und traditionelle Kleidung. Ich habe bewusst entschieden, nicht wie meine Mutter zu handeln – mich also nicht zu assimilieren, sondern zu integrieren. Denn das ist ein bedeutender Unterschied.
Neustart: Wir mussten in Jemen alles verkaufen, damit wir die Flugtickets nach Deutschland zahlen konnten. Auch den Bus, mit dem mein Bruder Passagiere transportierte und Geld verdiente. Und die Kämpfe sowie die Tatsache, dass wir gezwungen waren, diese Heimat zu verlassen, nahmen uns alle sehr mit. Als wir ankamen, gab es das Deutschland, das mei- ne Mutter kannte, nicht mehr. Die DDR war seit mehr als 20 Jahren Geschichte. Deshalb war es besonders für sie schwer. Nach der langen Zeit in Jemen fand sie sich hier zunächst kaum zurecht und konnte uns – also ihren inzwischen erwachsenen Kindern – kaum helfen. Wir hatten einen Bekannten in Eisenach, der uns eine Wohnung verschaffte, in der wir die ersten Monate sehr spärlich verbrachten, ohne Möbel. Wir lebten in einfachen Verhältnissen und waren mit wenig zufrieden. Schließlich kamen wir aus einem vergleichsweise armen Land und waren dort auch keine reichen Leute.
Neue Heimat: Eisenach ist heute unsere Heimat. Und genauso erhalten wir uns hier die jemenitische Kultur: Wir kochen arabisches Essen, spielen jemenitische Musik und tanzen. Wir feiern die zwei großen traditionellen religiösen Feste des Islams, das Opferfest und das Zuckerfest. Wir treffen auch andere arabische Familien, verbringen Nachmittage zusammen und essen gemeinsam. Frauen aus Syrien oder dem Irak sind dabei – es ist eine vielfältige Gesellschaft, wir verstehen uns gut. Außerdem wohnen meinen Geschwister hier mit ihren Familien und wir treffen uns regelmäßig.
Erfahrungen: Die schönste Erfahrung ist, dass ich hier Arbeit gefunden habe. Ich hatte anfangs Angst, dass das schwierig wird, wegen des Kopftuchs. Besonders in Thüringen, wo es vergleichsweise wenige Migranten gibt. Ich kenne Frauen, die deswegen keinen Job bekommen haben. Ich kenne Familien, die von hier weggezogen sind, weil sie sich unwohl fühlten. Alltagsdiskriminierung ist ein reales Problem. Ein Mann sprach mich einmal auf der Straße an und fragte – offensichtlich wegen meines Kopftuches –, ob wir hier im Mittelalter lebten. Ein anderer hat gespuckt. Auch abschätzige Blicke und Schimpfwörter bekommt man oft ab. Sehr bewegend war für mich auch die Mitarbeit an dem Projekt „Buchenwald. Ein Audiowalk“: Junge Erwachsene mit unterschiedlichen Lebenserfahrungen haben sich dazu mit der Geschichte Buchenwalds auseinandergesetzt und Hörbeiträge entwickelt, die Gedenkstättenbesucher vor Ort nutzen können.
Sehnsucht: Unsere Familiengeschichte interessiert meine Kinder sehr. Meine Tochter war sechs Jahre alt, als wir herkamen – also fast genauso alt wie ich, als ich nach Jemen zog. Heute fragen sie mich oft nach dem Krieg dort und wie es ihrem Opa geht, denn er lebt nach wie vor in Jemen. Und das Land wieder zu besuchen und den Rest unserer Familie wiederzusehen, ist ein Traum. Allerdings ein ferner. Denn Flugtickets sind teuer und die politische Lage ist nach wie vor sehr instabil, sodass eine Reise gefährlich wäre. Wieder ganz dorthin zurückkehren würden wir nicht mehr. Wir haben uns inzwischen an Deutschland gewöhnt, an die Arbeitswelt, das Schul- und Gesundheitssystem. Ich denke dabei vor allem an meine Kinder. Hier haben sie es gut.

Miranda Mureibish (42) lebt in Eisenach und ist Projektdozentin. Sie qualifiziert Menschen dazu, als Sprach- und Integrationsmittler arbeiten zu können. In dem Rahmen unterrichtet sie die Fächer Sozialwesen und Migration. Nebenbei ist sie als Dolmetscherin tätig.

von Kirowski (Kasachstan) nach Bad Salzungen

Nikolai image
Familie: Die Geschichte meiner Familie ist wohl beispielhaft für die von vielen sogenannten Spätaussiedlern. Meine Vorfahren wurden vor Jahrhunderten als „Wolgadeutsche“ im Osten Europas angesiedelt, um Land zu erschließen. Die Menschen lebten lange Zeit in kleinen Siedlungen meist unter sich, sprachen selbstverständlich Deutsch. Meine Großmutter wurde auf der Halbinsel Krim geboren, auch sie sprach Deutsch und hatte einen deutschen Namen. Doch als der Zweite Weltkrieg ausbrach, wurden die Siedler weit weg nach Osten verbannt, meine Großmutter strandete in Kasachstan und heiratete mit 18 Jahren einen Mann von dort – meinen Opa.
Aufbruch: Bis ich zwölf Jahre alt war, lebte meine Familie in Kasachstan. Anfang der 2000er-Jahre beschlossen wir, nach Deutschland zu ziehen, in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Es gab kaum Perspektiven in der Heimat. Und nach der Wiedervereinigung hatten Familien mit deutschen Wurzeln die Möglichkeit, in die Bundesrepublik überzusiedeln. Meine Großmutter – nach dem Tod des Großvaters das Familienoberhaupt – stellte einen Antrag, musste eine Prüfung absolvieren, und anschließend ging es los. Viele Menschen in unserem kasachischen Heimatort hatten deutsche Wurzeln und sind in dieser Zeit nach Deutschland gegangen. Wir waren eine der letzten Familien. Weil wir zunächst abwarten wollten, was die anderen berichten, und sehen wollten, wie diese Kultur dort wohl zu uns passt. In Bad Salzungen wohnten bereits Bekannte von uns, weswegen wir dann direkt hierhergezogen sind.
Deutschland: Ich war ein Teenager, ging in Kasachstan zur Schule, hatte dort Freunde und ein gefestigtes soziales Umfeld. Für mich war es wohl mit am schwersten, in Deutschland neu anzufangen. Und als wir hier ankamen, gab es auch gleich die ersten Probleme: Ich konnte kein Deutsch, bis auf wenige Worte Platt, die mir meine Oma beigebracht hatte. Ich verstand in Deutschland anfangs also kaum etwas, wurde deswegen gehänselt und beleidigt. Wobei mich das wiederum motiviert hat, schnell die neue Sprache zu lernen. Ein paar Monate war es wirklich hart, ich wollte zurück und war traurig. Doch dann fand ich Anschluss, auch bei anderen Spätaussiedlern. Nach einem Jahr konnte ich dann gut Deutsch und verstehen, was um mich herum geschah. Ich fühlte mich integriert.
Unterschiede: Inzwischen habe ich den Großteil meines Lebens in Deutschland verbracht. Das ist mir besonders klar geworden, als ich 16 Jahre nach unserem Wegzug erstmals wieder nach Kasachstan kam: Die Menschen dort haben mir angemerkt, dass ich in Europa groß geworden bin. Auch ich selbst merkte es daran, wie ich bestimmte Dinge erledige, dass ich disziplinierter bin, und an der Art und Weise, Konflikte zu lösen. In Kasachstan ist es leider immer noch so, dass zuerst gerne mal die Fäuste fliegen, bevor man ein Problem ausdiskutiert. Versucht man stattdessen, es auf die westeuropäische Art zuerst mit Gesprächen zu lösen, wird man komisch angeguckt. In jenen 16 Jahren hat sich in Kasachstan viel geändert. Es gibt dort durchaus wirtschaftlichen Fortschritt, die Städte entwickeln sich. Aber an Deutschland reicht das noch keineswegs heran. Wobei es auch umgekehrt Dinge in Kasachstan gibt, die besser sind als hier. Für mich war es grundsätzlich schön, wiederzukommen. Ich habe alte Schulkameraden wiedergetroffen, aber auch gemerkt: Von allen aus der alten Klasse geht es mir heute am besten. Ich denke dann, dass es wohl das Beste für mich war, dass Großmutter uns damals nach Deutschland gebracht hat. Meine Freunde in Kasachstan leben einfacher, verdienen weniger und haben schwierigere Lebensumstände. Ein neues Auto kaufen etwa, was in Deutschland oft nicht einmal mehr ein Statussymbol, sondern Normalität ist, ist für Durchschnittsbürger in Kasachstan nicht vorstellbar.
Familie und Heimat: Bei dieser Reise habe ich auch meine Ehefrau (wieder-)gefunden. Ich kannte sie noch aus Kindertagen. Und dann, nach langer Zeit wieder zurück in Kasachstan, traf ich sie zufällig wieder und verliebte mich sofort. Wir besuchten uns danach mehrmals gegenseitig, inzwischen lebt sie mit mir in Bad Salzungen, und wir erwarten unser zweites Baby. Ich habe in den vergangenen 20 Jahren in Bad Salzungen sehr viel mit Menschen aus der Sowjetunion zu tun gehabt, also Ukrainer, Russen oder Kirgisen als Freunde gehabt. Wir waren sehr oft unter uns – es ist also schwierig, heute zu sagen, wo genau eigentlich meine Heimat ist. Ich merke, dass ich in Kasachstan nicht mehr zu Hause bin, weil es dort nicht mehr das Leben ist, das ich gewohnt war. Aber selbst nach zwei Jahrzehnten hier fühlt sich Deutschland auch noch nicht wie meine Heimat an. Meine Heimat ist nicht hier und nicht dort. Ich bin irgendwo dazwischen, also ein Kasache ohne Heimat. Wobei: Meine Komfortzone ist klar hier in Deutschland, denn hier fühle ich mich wohl. Ich habe viele Freunde, kenne jede Ecke von Bad Salzungen. Gleichzeitig fällt es mir nicht schwer, die eigene Komfortzone zu verlassen, weil ich das durch meine Arbeit gewohnt bin. Ich bin dadurch oft unterwegs, manchmal monatelang. In den nunmehr acht Jahren hat mich das sogar zur Frage gebracht, ob ich auswandern möchte – vielleicht auch zurück nach Kasachstan.
Identität: Viele verschiedene Menschen mit deutschen Wurzeln, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion von dort in die Bundesrepublik übersiedelten, werden als Russlanddeutsche bezeichnet. Ich sehe mich selbst nicht so. Zwar gehörte Kasachstan zur Sowjetunion. Aber für mich gilt: Mein Vater ist Kasache, ich wurde ebenfalls in Kasachstan geboren und sehe auch rein äußerlich wie die Menschen dort aus. Fragt man mich nach meiner Nationalität, sage ich also stolz, ich bin Kasache. Aber: Ich habe ebenso die deutsche Staatsbürgerschaft, habe hier meine berufliche Karriere begonnen und mir mein Leben aufgebaut. Mehr als zwei Drittel davon habe ich inzwischen hier verbracht. In meinem Beruf reise ich sehr viel, habe lange internationale Arbeitseinsätze und repräsentiere als Mitarbeiter meines Unternehmens Deutschland in der Welt.

Nikolaj Fedorenko (33) aus Bad Salzungen arbeitet seit acht Jahren als Supervisor bei einem Unternehmen, das Rodelbahnen und Wasserrutschen in aller Welt baut. Gerade war er geschäftlich in Litauen und Rumänien und sagt: „Wann immer ich die Gelegenheit habe, nutze ich die Einblicke in die anderen Kulturen“.

von Bengasi (Libyen) nach Bad Salzungen

Sali und Samiha image
Die Flucht: Wir sind mit der ganzen Familie nach Deutschland gekommen. Neben uns waren das noch zwei Brüder, eine Schwester, Mutter und Vater. 2014 war das – nach einer sehr langen und kräftezehrenden Reise. Wir hatten nicht vor, zu flüchten. Drei Jahre, bevor wir herkamen, fing der Bürgerkrieg in Libyen an. Mein Vater arbeitete als Schweißer. Es gab nicht viele Jobs, weil Krieg war. Also war er froh, überhaupt etwas Geld verdienen zu können. Es herrschte Chaos. Dann wurde er mit Reparaturen in einem Gefängnis beauftragt – besser gesagt: dazu gezwungen. Was dort geschah in den Wirren des Krieges, wusste er nicht. Aber Freunde sagten, es könnte ihm zum Verhängnis werden. Man könnte ihn dafür belangen, weil er an diesem Ort war. Niemand konnte ihm oder uns in der Situation helfen, denn es gab keine funktionierenden Polizeibehörden, an die wir uns wenden konnten. Die Unsicherheit wurde immer schlimmer: Der Schulbus, in dem wir beiden Schwestern saßen, wurde immer wieder von patrouillierenden Islamisten gestoppt. Sie forderten uns als Mädchen auf, nicht zur Schule, sondern nach Hause zu gehen. Einmal sagte einer, das sei jetzt die letzte Mahnung – sonst würden wir weggebracht. Aber selbstverständlich wollten wir lernen und nicht zu Hause bleiben. Unser großer Traum ist schließlich immer gewesen, Medizin zu studieren.
Der Weg: Als die Familie in einer Nacht zusammensaß, kam Vater von der Arbeit nach Hause und sagte, er habe große Angst, dass ihm etwas passieren könnte, wenn er noch einmal dorthin geht. Also entschieden wir uns, zu gehen. Wir wussten aber nicht, wohin. Wir verließen unsere Wohnung im Dunkeln und fuhren durch Bengasi mit dem Auto zur Küste. Dort lag ein kleines Boot im Wasser: 300 Leute, drei Etagen, von Schleusern organisiert. Selbstverständlich hatten wir Angst – Vater wollte uns sogar wieder zurückbringen. Aber die Schleuser sagten: Es gibt kein Zurück mehr. Weil wir die Anlegestelle und die Menschen gesehen hatten, wussten wir bereits zu viel. Drei Tage trieben wir in dem Boot auf dem Meer, dann erreichten wir italienische Gewässer vor der Insel Lampedusa. Das Boot war am Ende, ein Öltanker, der dort unterwegs war, rettete uns schließlich. Mama sagte dann, wir sollten weiter nach Deutschland, weil es dort Bekannte gab. Wir fuhren mit dem Zug, ohne Ausweise oder Ticket. Die Polizei hat uns unterwegs auch kontrolliert. Aber wir kamen an.
Heimat: Libyen ist zwar das Land, aus dem wir kommen, aber nicht unser Heimatland. Wir sind Palästinenser – und somit auch in Libyen immer „Ausländer“ gewesen. Die Eltern meiner Mutter sind 1947 aus Palästina zuerst nach Ägypten und später nach Libyen geflohen. Wir Geschwister wurden alle in Libyen geboren. Aber Palästina ist unsere Heimat, selbst wenn wir noch nie dort waren. Wir haben deshalb aber auch nie erfahren, was genau Heimat eigentlich ist. Denn wir sind überall immer nur die Flüchtlinge gewesen. Auch hier in Deutschland. Aber vielleicht kann man es so sagen: Wo ich bin, ist Heimat.
Deutschland: Nach mehreren Stationen in Flüchtlingsheimen kamen wir schließlich nach Wiesenfeld bei Geisa. Ein kleines Dorf, in das sich besonders meine Eltern verliebt haben. Weil es so grün und friedlich ist. Wir hatten sehr nette Menschen um uns herum, Nachbarfamilien, mit denen wir uns angefreundet haben und die uns sehr geholfen haben. Noch heute fahren wir gern hin und besuchen sie. Schwierig war aber unsere Wohnsituation dort. Wir waren zwar in einem schönen Haus und sehr dankbar dafür. Da es aber sehr groß war, sollte es weiter ausgelastet werden: Drei wahrscheinlich ebenfalls asylsuchende Albaner wurden mit einquartiert, wir mussten uns ein Bad und eine Küche teilen. Für uns als Familie mit Kindern war das sehr belastend, es gab keine Rückzugsräume. Später haben uns die Behörden erlaubt, nach Bad Salzungen zu ziehen, damit unser kleiner Bruder eine Förderschule besuchen konnte. Die Flucht hat extreme Spuren bei ihm hinterlassen. Seitdem sind wir hier.
Bürokratie: Unsere Asylanträge sind mehrfach abgelehnt worden, wir werden also derzeit nur geduldet. Behördengänge waren insgesamt sehr herausfordernd für uns: Unsere Eltern wurden aufgefordert, Dokumente aus Libyen und Ägypten vorzulegen. Bekommen haben sie diese aber gar nicht, weil diese Behörden wiederum sagen, wir seien als Palästinenser nicht Bürger dieser Staaten. Wir Schwestern durften anfangs in Deutschland auch keinen Deutschkurs besuchen – wohl ebenso weil wir aus Palästina sind und nicht anerkannt werden konnten.
Zukunft: Unsere unklare Zukunft ist eine große Belastung. Wir haben schon öfter nicht ruhig schlafen können, weil sich die Gedanken nur darum drehen, wie es morgen weitergeht. Wir stehen unter Druck, unsere Ausbildung zu schaffen, weil das essenziell ist, um bleiben zu dürfen. Es war sehr riskant, Libyen zu verlassen ohne Plan. Aber besser, als zu bleiben und unser Leben zu riskieren. Nun sind wir hier und leben im „Zwischendrin“. Das, was wir uns am meisten wünschen, ist aber Normalität. Ein Leben ohne Ungewissheit, ohne Stress. Wir würden gern einmal verreisen, vielleicht in die Schweiz – dürfen das aber in dieser Situation nicht.
Herausforderungen und Erfolge: Manchmal fühlen wir uns noch sehr fremd hier. Das war vor allem anfangs so, als wir noch kein Deutsch konnten, nichts verstanden haben und manche Leute hier dann obendrein auch noch Platt gesprochen haben. Da wollten wir weg, wieder nach Hause. Denn Sprache hat sehr viel mit Heimat zu tun. Weil wir am Anfang auch keine Freunde hatten, fühlten wir uns zudem sehr einsam. Das Beste, was uns dann aber hier passierte, waren die Ausbildungsplätze im Krankenhaus – denn wir wollten schon immer Medizin studieren. In Libyen konnten wir das nicht und holen jetzt alles nach. Wir schrieben Bewerbungen, machten Praktika, lernten Deutsch. Als die Zusage kam, waren wir überwältigt.
Identität: Weil wir als Musliminnen das Kopftuch getragen haben, spürten wir viel Ablehnung – direkt und indirekt. Eine Frau hat uns einmal zu verstehen gegeben, es zu tragen, sei hier nicht gewünscht. Und wir dachten daraufhin, man dürfe in Deutschland gar kein Kopftuch anziehen. Später verstanden wir, dass man es selbstverständlich tragen darf. Wir ziehen es inzwischen nicht mehr an. Aber nicht, weil Menschen uns deswegen diskriminiert haben. Sondern, weil es unsere freie Entscheidung war. Die Familie von Vater ist noch immer in Libyen, aber wir haben kaum noch Kontakt. Die restlichen Verwandten von Mutter sind inzwischen in Deutschland. Das Wichtigste ist, dass wir als Familie zusammenhalten. Wir kochen gemeinsam arabisches Essen und sind immer beieinander. Oft denken wir auch an Libyen. So viele Freunde sind noch da. Und wir machen uns Sorgen. Wir schreiben ihnen ab und zu Nachrichten, wie es ihnen geht. Manchmal kommt eine Antwort erst nach einem Monat – weil es so lange keine Netzverbindung gab.

Die Schwestern Sali und Samiha Ahmed (25, 24) arbeiten als Auszubildende in der Gesundheits- und Krankenpflege im Klinikum Bad Salzungen. Sie haben inzwischen eine eigene Wohnung, besuchen aber die Eltern und Geschwister ganz oft. Beide tanzen gern und haben Kuchendesign als Hobby entdeckt.

von Afrin (Syrien) nach Bad Salzungen

Moustafa image
Abschied: Ich bin Kurde und stamme aus dem syrisch-türkischen Grenzgebiet. Der Bürgerkrieg in Syrien ist irgendwann so schrecklich geworden, dass mir keine andere Wahl blieb, als zu gehen. Wir gerieten, wie so viele Menschen dort, zwischen die Kriegsfronten. Man hat mir mein Geschäft genommen, in dem ich Elektrogeräte verkauft habe. Auch unsere Wohnung haben wir wegen des Kriegs verloren – also beschloss ich 2013, zu fliehen, und kam über die Türkei nach Deutschland und in den Wartburgkreis. Meine Frau und meinen kleinen Sohn holte ich dann nach.
Heimatgefühle: In Bad Salzungen kann meine Familie in Frieden leben. Ich habe, nachdem ich hergekommen war, einen guten Job gefunden und arbeiten können. Irgendwann entschied ich zusammen mit meiner Frau, dass wir uns selbstständig machen. Wir übernahmen ein Geschäft für internationale Spezialitäten und sind seitdem sehr glücklich. Auch weil uns die langjährige Mitarbeiterin dort sehr unterstützt. Hier gibt es Nahrungsmittel und Gewürze aus aller Welt – auch aus muslimischen Ländern, etwa Syrien. So haben wir immer ein gutes Stück der alten Heimat in Bad Salzungen.

Moustafa Alo (42) betreibt einen Lebensmittelladen für ausländische Spezialitäten in Bad Salzungen. Die meisten seiner Kunden kommen aus Osteuropa und arabischen Ländern wie Afghanistan, Syrien oder der Türkei.

von Hanoi (Vietnam) nach Bad Liebenstein

Hai image
Neuanfang: Mit 18 Jahren kam ich nach Deutschland und hier in die Region. Damals bin ich zusammen mit meiner Mutter meinem Vater hinterhergereist. Er war schon hier, um zu arbeiten. Am Anfang war in Deutschland sehr vieles schwer für mich: Ich konnte die Sprache nicht, habe zudem all meine Freunde in Vietnam zurücklassen müssen. Und das Leben hier ist ein anderes. In Vietnams Hauptstadt Hanoi ist es heiß und quirlig. Die Türen der Nachbarn in der gesamten Straße stehen immer offen. Wir Kinder konnten einander besuchen kommen, wann und bleiben, solange wir wollten. Alle spielten zusammen auf der Straße, es war immer viel los. Als ich hier in der Region ankam, herrschte Winter. Es war Januar, überall lag Schnee. Es war sehr kalt und wurde schon am Nachmittag dunkel. Das wirkte zunächst sehr traurig. Aber ich habe zugleich von Anfang an gewusst, dass wir hierbleiben werden. Darauf habe ich mich konzentriert. In der Volkshochschule lernte ich allmählich Deutsch und kam dann in die Schule. Wegen der Sprachbarriere allerdings zunächst in die 8. Klasse. Auch damit umzugehen, war anfangs zwar schwer, schlimm war es aber nicht. Schritt für Schritt bin ich meinen Weg gegangen.
Deutschland: Ich lebe insgesamt nun schon länger hier als in Vietnam. Ich würde schon sagen, dass ich ein Teil von Deutschland bin. Fremd fühle ich mich nicht mehr hier, sondern sehr wohl. Das habe ich auch gemerkt, als wir das letzte Mal Vietnam besucht haben: 2015 fuhren wir zum Dorf meiner Frau. Die Familie lebt auf dem Land, die Reise war beschwerlich, das Klima machte uns zu schaffen. Es war anstrengend und stressig, auch weil wir unsere kleinen Kinder dabeihatten. Auch den Trubel von Hanoi kann ich nicht mehr lange aushalten. Wenn ich ehrlich bin, habe ich selbst im vergleichsweise ruhigeren Berlin nach ein paar Tagen genug. Hier im Wartburgkreis – im Grünen – dagegen fühle ich mich inzwischen am wohlsten.
Erfahrungen: Ich war mal mit Freunden unterwegs in Leipzig. Dort haben wir in einem Park Fußball gespielt – auch Asylbewerber waren dabei. Einer von ihnen stürzte und verletzte sich schwer am Fuß. Er war „illegal“ hier, hatte keine Papiere. Als die Sanitäter kamen, nahmen sie ihn trotzdem mit, um ihn zu versorgen – ohne zu fragen. Nach dem Motto: Erst mal helfen, alles andere klären wir später. Das war eine schöne Erfahrung. Aus meiner alten Heimat kenne ich das anders. Wenn dir dort so was passiert und du kein Geld einstecken hast, hilft dir wahrscheinlich niemand. Ich denke grundsätzlich, dass einem Deutschland vieles bietet. Wenn man arbeiten und lernen möchte, dann bekommt man auch die Chance dazu. Als Migrant fällt mir das besonders auf. Du kannst hierbleiben, die Sprache lernen und auch einen Beruf. Vor allem sind die Dinge klar geregelt: Alles lässt sich meist erklären und nachvollziehen. Und wenn mal etwas nicht geht, werden Gründe dafür genannt. Will ich einen Antrag stellen und fehlt ein Dokument, dann muss ich es eben noch besorgen. In Vietnam ist vieles anders, was Arbeiten, Studieren und Lebenschancen angeht: Wenn du zwar unbedingt willst, aber kein Geld hast, geht es eben nicht. Selbst, wenn du gut bist. Das ist leider auch ein Grund, warum viele junge Menschen auswandern und das Land dauerhaft verlassen. Eine schwierige Erfahrung war es anfangs, hier in der Schule das einzige „fremde“ Kind zu sein – also einfach „anders“ zu sein. Weil es insgesamt sehr wenige Ausländer gab. Ich habe die Ablehnung durchaus gespürt, manche Kinder waren nicht nett. Aber: Viele andere wiederum haben mir auch sehr geholfen.
Kultur: Ich betreibe mein eigenes Restaurant in Bad Liebenstein mit Spezialitäten aus Südost- und Ostasien. Meist habe ich den ganzen Tag zu tun, sodass nicht viel Freizeit bleibt. Aber: Die Familie ist dafür hier beisammen, alle arbeiten mit. Wenn ich abends Zeit habe, schaue ich vietnamesische Filme, lese Bücher und höre Musik aus der alten Heimat. Und selbstverständlich spielt das Essen eine große Rolle. Wir beziehen viele unserer Lebensmittel direkt aus Asien, das Essen muss authentisch und qualitativ hochwertig sein, darauf lege ich großen Wert. Wobei ich auch von Anfang an in die deutsche Esskultur eingetaucht bin. Die Unterschiede sind groß und mitunter amüsant. Ich konnte anfangs hier zum Beispiel kein Sprudelwasser trinken. Das ist etwas typisch Deutsches, das ich überhaupt nicht kannte und mir komisch vorkam. Inzwischen sind wir es längst gewohnt. Eine weitere wichtige vietnamesische Tradition ist ein kleiner Schrein am Eingang unseres Restaurants, mit dem wir unserer Ahnen gedenken. Alle Besucher kommen an ihm vorbei, wenn sie in unser Restaurant kommen.

Nguyen Tien Hai (39) ist Gastronom und betreibt ein Restaurant in Bad Liebenstein. Er hat zuvor
an verschiedenen Orten in Deutschland Zeit verbracht, Kochen gelernt und sich fortgebildet, weil er in seinem Essen auch das Lebensgefühl der alten Heimat wiedergeben möchte. Sein Lieblingsessen ist, wie schon seit der Kindheit, Pho – eine traditionelle vietnamesische Nudelsuppe.

von Udon Thani (Thailand) nach Unterbreizbach

Virasinee image
Aufbruch und neue Heimat: Ich bin in den Wartburgkreis gekommen, um eine neue Familie zu gründen und Deutschland kennenzulernen. Zuerst kam ich regelmäßig zu Besuch zu meinem jetzigen Mann. 2015 schließlich bin ich hergezogen, und meine jüngste Tochter kam mit. Ich mochte Deutschland von Beginn an – es bietet Arbeit, ein gutes Klima und viele nette Menschen. Inzwischen bin ich genauso ein Teil von Deutschland wie von Thailand. Als meine Heimat würde ich nun aber Deutschland bezeichnen, denn Heimat bedeutet für mich, nicht allein zu sein. Ich bin wirklich angekommen und gern hier, habe meine neue Familie und einen wunderbaren Freundeskreis im Ort, der mich herzlich aufgenommen hat. Fremd fühle ich mich hier schon lange nicht mehr. Nur die Sprache zu lernen fällt schwer.
Alte Heimat: Meine Mutter und meine andere, bereits erwachsene Tochter leben beide noch in Thailand. Wir halten regelmäßig Kontakt und telefonieren. Und wenn es möglich ist, fliegen wir einmal im Jahr hin. Ich bringe dann viele Sachen aus Thailand mit zurück, weil mir meine Kultur wichtig ist – ob es Lebensmittel sind, die wir hier zum Kochen verwenden, oder Kleidung, die ich zu besonderen Anlässen trage. Genauso kaufen wir in Thai-Geschäften in Deutschland ein. Auch dadurch habe ich einen weiteren Freundeskreis erschlossen: Thailänder, die wie ich hierher migriert sind. Mit ihnen treffe ich mich ab und zu. In Deutschland schaue ich zudem Thai-Serien oder Filme. Außerdem pflege ich einen Brauch aus der alten Heimat: Im Oktober faste ich und verzichte auf Fleisch. Ein wichtiges Ritual der südostasiatischen Kultur.
Unterschiede: Sehr bemerkenswert ist für mich das Wetter. In Deutschland ist es im Winter zwar extrem kalt. Aber im Sommer ist es angenehm – während der Sommer in Thailand sehr heiß und für meine Gesundheit herausfordernd ist. Früher habe ich in der alten Heimat vor allem gearbeitet, von früh bis spät. Ich hatte dort schon mein eigenes Geschäft und viel Verantwortung. Da ist nicht viel Zeit für anderes geblieben. In Deutschland ist das anders. Hier ist es wichtig, auch sein Privatleben zu genießen, Reisen zu machen oder Freunde zu treffen. Das finde ich sehr gut. Ich hatte schon viele solcher schönen Erlebnisse hier. Dazu zählt auch eine Silvesternacht vor ein paar Jahren mit dem Freundeskreis: Um Mitternacht waren wir draußen und haben von einem Berg über Unterbreizbach geblickt, um das Feuerwerk zu sehen. Das war fantastisch.

Virasinee Heerdegen (50) lebt in Unterbreizbach und führt dort eine Praxis für traditionelle Thai-Massage und Fußpflege. Ihr Geschäft ist beliebt im Ort, darauf ist sie besonders stolz. Außerdem hat sie ein neues Hobby entdeckt: Sie ist inzwischen leidenschaftliche Anglerin.

von Aleppo (Syrien) nach Tiefenort

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Heimat: Ich bin Kurde. Eigentlich habe ich also gar kein Heimatland. Denn einen kurdischen Staat gibt es nicht. Doch ich wurde in Syrien geboren und dieses Land ist so zu meiner Heimat geworden. Als der syrische Bürgerkrieg sich auf meine Heimatstadt Aleppo ausweitete, hat mein Vater gesagt: Du solltest nicht hierbleiben, es ist gefährlich. Das war es auch. Die vielen Kriegsparteien, Armeen und Milizen haben junge Männer rekrutiert, sie wollten auch mich einziehen. Ich wollte bei der Familie bleiben – doch mein Vater hat mich un- ter Tränen gedrängt, zu gehen. Er selbst brachte mich schließlich an die Grenze zum Nachbarland Türkei – es war der Sommer 2014. Mein Abschied aus Syrien.
Zwischendrin: Ich blieb ein Jahr in der Türkei und verdingte mich dort als Schneider, um zu überleben. Es gibt viele Werkstätten, Arbeitskräfte aus Syrien sind gern gesehen. Plötzlich war ich also in der Metropole Istanbul. Aber Menschen, die vorm Krieg geflohen sind, werden ausgenutzt. Man arbeitet viel, erhält nicht immer den Lohn. Drei Monate lang bekam ich nichts, obwohl ich für Essen und mein Zimmer zahlen musste. Ich war illegal in der Türkei, also mehr oder weniger ausgeliefert, und konnte nirgendwo Hilfe suchen. Also beschloss ich, weiterzuziehen. Nach Syrien konnte ich nicht zurück. Viele Bekannte, die in einer ähnlichen Lage waren, haben mir dann von Deutschland erzählt und gesagt, ich solle dorthin gehen.
Der Weg: Ich habe die sogenannte Westbalkanroute genommen, über Griechenland und Mazedonien bis nach Mitteleuropa. Per Boot, Zug und zu Fuß war ich zwei Wochen unterwegs. Erst beim dritten Mal klappte die Überfahrt nach Griechenland. Stundenlang trieben wir auf offener See. Über Land waren wir oft nachts unterwegs, es war furchterregend. Vor lauter Hunger haben wir unterwegs Äpfel von den Bäumen gepflückt. Für den Transport mussten wir viel Geld an Schlepper zahlen. Und wir wussten nie, wann es weitergeht und was mit uns passiert. Als ich in Deutschland ankam, hatte ich in meiner Tasche ein paar alte Schuhe, wenige Wechselklamotten und 50 Euro – mehr nicht. Ich träume noch heute angsterfüllt von dieser „Reise“.
Deutschland: Als ich in Tiefenort ankam mit anderen Flüchtlingen aus Somalia und Eritrea, haben uns die Leute vor Ort sehr geholfen. Das ist nicht selbstverständlich. Und das ist etwas ganz Besonderes an Deutschland und den Menschen hier: Sie unterstützen andere, die sie nicht mal kennen. Einfach so. Überhaupt finde ich es bemerkenswert, wie Solidarität in der Gesellschaft verankert ist, etwa bei der Krankenversicherung. Alle geben einen Beitrag und wenn ich eine teure Operation habe, kann diese dadurch bezahlt werden. So etwas – genauso wie Versicherungen, Haftpflicht und Kasko – kenne ich aus meiner alten Heimat gar nicht. Dieses System ist fair und gut. Andererseits: Es gibt viel Bürokratie und Papierkram hier. Dinge, mit denen manchmal nicht einmal Einheimische zurechtkommen, wie ich denke.
Bindung: Nachdem Khalil zunächst in einer Sammelunterkunft für Geflüchtete in Tiefenort untergekommen war, hat ihn später eine Familie aus dem Ort unter ihre Fittiche genommen. Claudia Kister, Mitarbeiterin des DRK Bad Salzungen, bot ihm an, in ihr Haus einzuziehen. Nachdem ihre eigenen Kinder ausgezogen waren, lebten nur noch sie und ihr Ehemann dort, es gab viel Platz. Claudia Kister sagt, sie habe ein schlechtes Gewissen gehabt, weil die Geflüchteten in ihrer Unterkunft wenig Raum gehabt hätten. Khalil stimmte zu, zog 2016 ein und seitdem hat die Tiefenorterin die Rolle der Ziehmutter übernommen: Sie übte Deutsch mit Khalil, half ihm bei der Arbeitssuche, mit Terminen und Dokumenten. 
Das Leben: Ich arbeite in einem Industriebetrieb in der Nähe. Wir stellen Teile für Autos und Lkw her. Die Arbeit ist gut, ich komme bestens mit meinen Kollegen klar. Das war schon von Beginn an so. Noch niemand in Deutschland hat mich wegen meiner Herkunft diskriminiert. Aber ich habe wie andere Flüchtlinge auch davon gehört, dass es Hass und Rechtsextremismus gibt. Aber ich kann selbst nichts Schlechtes berichten. Es gibt überall gute und üble Menschen. Die, die ich hier kennengelernt habe, sind alle freundlich und hilfsbereit. Das lässt mich in das Gute vertrauen.
Erfolge: Als Ziehmutter Claudia Kister Khalil zum ersten Mal in der Geflüchtetenunterkunft in Tiefenort traf, ist ihr aufgefallen, dass er nicht wie alle anderen mit seinem Mobiltelefon beschäftigt war. Dann verstand sie, dass Khalil Legastheniker ist. Er konnte seine Muttersprache, das Kurdisch-Arabische, weder lesen noch schreiben. Und das einzige deutsche Wort, das er anfangs kannte, war „hallo“. Dann lernte sie mit ihm, mit viel Ausdauer und Zeit. Und Khalil hat es geschafft: Er kann Deutsch inzwischen lesen und schreiben, hat die Sprachstufe B1 erlangt. Ein riesiger Erfolg für ihn. 
Träume: Ich habe meinen Führerschein gemacht und fahre jetzt ein kleines Auto. Noch dauert es, bis ich einen gesicherten Aufenthaltsstatus in Deutschland bekommen kann. Ich habe deshalb noch keinen Pass, kann nicht reisen. Doch ich würde so gerne einmal in die Schweiz oder nach Dänemark, wo Verwandte von mir wohnen. Ich telefoniere einmal pro Woche mit meinen Eltern und Geschwistern in Syrien. Ich würde auch sie so gerne wiedersehen. Aber ich denke nicht, dass das geht. Ich kann nicht dorthin zurückkehren. Und meine Eltern können kaum die Stadt verlassen, in der sie leben, weil sie vom Militär belagert ist. Ich denke, es gibt keine Chance.

Ibrahim Khalil Dadou (34) wohnt in Tiefenort und ist Produktionsmitarbeiter in einem Industriebetrieb. In seiner Heimat Syrien wurde er als Schneider und Friseur ausgebildet, bevor er vor dem Bürgerkrieg floh. Hier in Deutschland engagiert er sich in seiner Freizeit beim  Katastrophenschutz des Deutschen roten Kreuzes.

von Sofia (Bulgarien) nach Bad Salzungen

Ana-Maria image
Deutschland: Deutschland ist mein Leid und mein Glück – meine neue, bessere Heimat. Es hat mich so gemacht, wie ich jetzt bin. Hier wurde ich reifer und zu einem starken Kampfgeist. Meine Eltern wünschten sich für mich, dass ich weit komme, im Leben viel erreiche und die bestmöglichen Voraussetzungen dafür habe. Sie sind nach Deutschland migriert, damit ich eine bessere Zukunft bekomme als in meinem Geburtsland Bulgarien. Das politische genau wie das Schulsystem hier gehören zu den besten, und die Chance ist groß, weit zu kommen. Mit einem guten Schulabschluss und dem Abitur öffnen sich mir die Türen zu Universitäten. Dort lernt man sehr viel über andere Kulturen und Glaubensweisen, was mir persönlich sehr wichtig ist.
Familie: Das Beste in Deutschland war die Zeit, die ich mit meinen Eltern verbracht habe. Ich bin ihnen für alles dankbar, sie sind meine Helden und bleiben es. Wir halten an unserer Kultur fest, feiern Weinachten oder Ostern  in unserer Tradition. Wir versuchen den Kontakt zu unserer Familie zu stärken, da sie unsere einzige echte Verbindung zu Bulgarien ist. Ich musste allerdings auch meine schlimmste Erfahrung überhaupt hier in Deutschland machen: der Tod meines Vaters, tragischerweise genau an seinem 50. Geburtstag, Anfang 2021. Es war der größtmögliche Schmerz. Meine Mutter war an jenem Tag an der Arbeit, ich habe zuhause vorbereitet und geschmückt, um Papa zu überraschen. Dann klingelte die Polizei, und mein Herz fiel zum Boden. In diesem Moment hat sich die Welt gedreht. Innerhalb von wenigen Tagen wurde ich gefühlt zehn Jahre reifer – weil ich mich auch um alle Formalitäten kümmern musste, da meine Mutter das niemals allein geschafft hätte. Bis heute fragt sie sich, was sie ohne mich getan hätte. Dann sage ich ihr, dass sie das nicht braucht – denn ich werde immer für sie da sein. Und nicht nur für sie, sondern für alle, die es brauchen: Meine Wunschberufe, die ich anstrebe, sind Kriminalpsychologie und Psychotherapie.
Das Schwierige: Natürlich gab es von allem abgesehen in Deutschland auch schlechte Erfahrungen, wie Fremdfeindlichkeit. Das musste ich anfangs leider so oft erleben, dass es mich manchmal zum Zweifeln brachte, ob nicht Deutschland doch die falsche Entscheidung war. In solchen Momenten fühle ich mich durchaus fremd hier. Jedoch wird mir dann wieder schnell klar, dass ich EU-Bürgerin bin, und eigentlich überall hingehen kann, ohne dass es mir jemand verbieten kann. Ich liebe es, zu reisen und neue Städte zu erkunden. Deswegen ist das Europa-Stipendium, das ich 2021 bekommen habe, auch eine meiner schönsten Erfahrungen – die mir die Freiheit gibt, so viel wie möglich von Deutschland zu sehen und viele neue Leute wie mich mit einer interessanten Vergangenheit kennenzulernen. Ich habe viel durchgemacht in Deutschland und ich fand immer wieder auf. Deutschland ist meine Heimat. Vielleicht nicht von Geburt an, aber Deutschland ist mein Zuhause. Ich sehe mich nirgends außer hier, denn hier bin ich richtig. Ich bin ein Teil Deutschlands und Deutschland ein Teil von mir.  

Ana-Maria Velichkova (15) besucht das Gymnasium in Bad Salzungen und hat 2021 ein prestigeträchtiges Europa-Stipendium erhalten. Sie liest gerne und macht in ihrer Freizeit Fitness-Training.  
Das Projekt image
Autor: Sven Wagner aus Bad Salzungen ist Journalist und Fotograf. Er hat Kulturwissenschaften an der Humboldt Universität zu Berlin studiert und war für Entwicklungsorganisationen in Bangladesch tätig. Heute arbeitet er in der Zentralredaktion der Südthüringer Zeitung und für weitere Zeitungen der HCSB-Verlagsgruppe. Schwerpunkte seines Schaffens sind politische sowie sozialkritischeThemen. Zudem reist er seit mehr als einem Jahrzehnt regelmäßig nach Südasien, wo er sich mit Entwicklungspolitik beschäftigt: Armut, Menschenrechts- und Globalisierungsfragen sowie Klima- und Umweltthemen stehen dabei im Mittelpunkt. Die Themen Migration und Exklusion haben ihn auch in diesem Zusammenhang bereits beschäftigt – unter anderem bei Recherchen zu gesellschaftlich ausgegrenzten indigenen Gruppen und Menschen in extremer Armut in Bangladesch sowie zur massenhaften Flucht der verfolgten Rohingya in Myanmar.

Gestaltung: Danielle de Souza Lima ist eine brasilianisch-australische Grafikdesignerin mit einer Ausbildung in Journalismus und der Forschung zu Erinnerungsprojekten sowie mündlich überlieferter Geschichte. Sie stammt aus Rio de Janeiro (Brasilien) und ist selbst Migrantin. In den vergangenen 13 Jahren lebte sie in Irland, Australien und Thailand und wohnt inzwischen in Deutschland. Ihrer Meinung nach sind Projekte wie die Ausstellung zur Zuwanderung im Wartburgkreis sehr wichtig, weil sie den Einwanderer sichtbar machen, ihnen eine Stimme und Zugehörigkeitsgefühl geben. „Wenn man es genau betrachtet, wären kein Kultur oder Gesellschaft und kein Land ohne den Beitrag von Einwanderern denkbar“, sagt sie.

Das Projekt ist entstanden in Zusammenarbeit mit dem Jugendmigrationsdienst Wartburgkreis/Internationaler Bund und dessen Leiterin Annett Luther-Schmidt. Die Idee zur Ausstellung entstand durch die zahlreichen Geschichten, die beim Jugendmigrationsdienst
im Laufe der Jahre bekanntgeworden sind - mit dem Ziel, Menschen, die hinter dem Begriff „Migranten“ stehen, sichtbar zu machen und zeigen, dass Sie ein bedeutender Teil unserer Gesellschaft sind. Bundesweit unterstützt der JMD Jugendliche und junge Erwachsene mit Migrationserfahrungen –durch Beratung, Bildungs- und Freizeitangebote. Der Internationale Bund (IB) als Träger ist mit mehr als 14.000 Mitarbeitenden einer der größten Dienstleister in der Jugend-, Sozial- und Bildungsarbeit in Deutschland.
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