Vergangenheit: Als ich zwei Jahre alt war, gingen meine Mutter und mein Vater in die USA, um dort Geld für die Familie zu verdienen. Ich blieb bei meinen Großeltern in der Stadt Ibarra und wuchs bei ihnen auf. Meinen Vater habe ich nie wiedergesehen, denn meine Mutter kam fünf Jahre später allein zurück nach Ecuador. Aber sie war mir fremd. Es war eine schwere Zeit. Meine Großeltern hatten eine harte Existenz, sie lebten wie Leibeigene als Bauern und arbeiteten ohne Lohn auf den Feldern von Großgrundbesitzern.
Die Lebensaufgabe: Mit 13 Jahren ging ich in ein bekanntes Holzschnitzerdorf in der Nähe, um den Bildhauerberuf zu erlernen. Mein Großvater war mein Vorbild – er konnte weder lesen noch schreiben, aber er schnitzte wundervolle Darstellungen mit Buchstaben und Ornamenten. Nur mit seinem kleinen Taschenmesser bearbeitete er das Holz. Meine Ausbildung war der Beginn einer Leidenschaft und meines Lebenswerks. Ich habe im Anschluss als Bildhauer gearbeitet, meine Skulpturen verkauft und eigenes Geld verdient. Danach folgten das Abitur und – einige Jahre später – ein Lehrerstudium. Mir öffnete sich eine neue Welt: Bücher lesen, philosophieren und mich mit den Lehrerkollegen austauschen. Mit meinem Wissen konnte ich im Dorf im Dschungel Ecuadors Kinder in Mathe, Naturkunde und Spanisch unterrichten.
Der Weg: Die Bildhauerei war und ist das Zentrum meines Lebens. Sie macht mich glücklich. Es ist egal, welchen Beruf man hat, solange man glücklich ist. Ich habe mich fortgebildet im Modellieren, Malen und grafischen Gestalten, bin Meister geworden und habe an der Schnitzschule Jüngeren das Handwerk beigebracht. Oft waren Besucher aus dem Ausland da, die unsere Kunst schätzten und kauften. Irgendwann kam ein Mann aus Deutschland und fragte, ob ich an seine neu gegründete Schnitzschule in der Nähe von Kaiserslautern komme, um dort zu unterrichten. So kam ich zum ersten Mal nach Deutschland. Ich war 35, und Europa war immer mein Traum. Ich reiste an den Wochenenden durch die Lande, um Museen zu besuchen – Deutschland, Italien, Frankreich, die Niederlande, selbst bis Moskau kam ich.
Die Rückkehr: Nach zwei Jahren endete mein Vertrag, und ich ging zurück nach Ecuador. Nur kurz, wie sich zeigte. Denn eine Frau aus Deutschland kam zu mir, um Schnitzen zu lernen. Wir verliebten uns, und ich folgte ihr kurz darauf wieder nach Deutschland, wo wir schließlich heirateten und zwei Kinder bekamen. Ich arbeitete wieder als Bildhauer, in dem Beruf, den ich am meisten liebe. Es war eine gute Zeit – bis es der Branche irgendwann immer schlechter ging. Dann verlor ich meine Anstellung und machte mich selbstständig. Es folgten schwierige Jahre, beruflich und privat, und schließlich zog ich – wieder alleinstehend – jahrelang durch Deutschland und die Welt, um zu arbeiten. Bis ich ein weiteres Mal im Leben großes Glück hatte und mich ein Bildhauerkollege auf die Arbeit mit der Kettensäge brachte. Seitdem schaffe ich viele Skulpturen auf diese Weise und habe damit internationale Auszeichnungen gewonnen. Das Ganze hat mir die Möglichkeit gegeben, zu reisen, neue Kulturen auf der Welt kennenzulernen, viele Freundschaften zu schließen und mit den Kollegen Erfahrungen auszutauschen. Die Kettensägenkünstler bilden weltweit eine große Familie.
Der Wartburgkreis: Lange bin ich noch nicht hier im Wartburgkreis. Aber ich hatte durch die Arbeit bereits Kontakte in die Region, kannte Kollegen und Freunde, etwa aus dem Rhöner Schnitzerdorf Empfertshausen oder durch meine Teilnahme an Holzbildhauersymposien in Bad Salzungen. Auch meine jetzige Lebensgefährtin, die von hier kommt, kenne ich schon länger durch die Szene. Also stand bald der Entschluss fest, mich hier niederzulassen. Es ist schön, die Menschen sind sehr aufgeschlossen, ich habe guten Kontakt zu sehr vielen Leuten. Und die Region bietet so viele schöne Dinge, die man machen kann. Das ist etwas ganz Besonderes.
Unterschiede: Es gibt so viele Kontraste im Leben. Jetzt bin ich hier – doch wenn ich zurückdenke an die Zeit, in der ich als Lehrer in Ecuador im Dschungel Kinder unterrichtet habe, kommt mir das wie eine völlig andere Welt vor. So war auch meine erste Ankunft in Deutschland: Ich konnte damals kein Wort der Sprache, war weg von meiner Familie, es herrschte eine ganz andere Kultur. Vieles versteht man am Anfang nicht und macht Fehler. Wir in Ecuador sind sehr kommunikativ, wir lachen viel und nehmen die Zeit locker: Wenn man rausgeht, etwa, um etwas zu einzukaufen, bleibt man vielleicht an der Straßenecke bei Bekannten hängen und quatscht sich fest. Dabei vergisst man schnell die Zeit und am Ende sogar, dass man überhaupt etwas besorgen wollte. Für einen Schwatz muss schließlich immer Zeit sein. In Deutschland sind viele Dinge anders.
Engagement: Es hat fünf harte Jahre gedauert, bis ich richtig angekommen war. Anfangs habe ich geweint und wollte zurück. Doch die Liebe zu meiner Frau damals und zu meinen Kindern hat mich hier gehalten. Und: Irgendwann, noch während der Zeit in Süddeutschland, freundete ich mich mit einer Frau aus Chile an. Sie war ebenfalls als Südamerikanerin nach Deutschland migriert. Und irgendwann sagte sie zu mir: Nun sind wir hier, und wir müssen es eben irgendwie schaffen. Wir stellten ein Radioprogramm auf Spanisch auf die Beine, das ein lokaler Radiosender ausstrahlte. Viele Leute waren begeistert, hörten die Sendung und riefen live an, um mit uns auf Sendung zu sprechen. Unser Leben hat sich dadurch geändert. Wir sind noch aktiver geworden, haben einen Kulturverein für Lateinamerikaner gegründet, um gemeinsame Events zu veranstalten. An den Wochenenden wurde Salsa getanzt. Brasilianer, Kubaner, Mexikaner – 170 Mitglieder waren wir.
Wurzeln: Ich denke zwar, wo ich bin, muss ich mich irgendwie anpassen. Aber hier in Deutschland habe ich auch meine eigene ursprüngliche Kultur wiedererkannt. Und festgestellt, dass es die eine, perfekte Kultur gar nicht gibt. Stattdessen sollte man sich auf das Beste von allen konzentrieren. Menschen sind unterschiedlich, und alle sollten respektiert werden. Dann darf man auch erwarten, dass man selbst akzeptiert wird. Mir ging es in Deutschland stets so. Ich habe nur positive Erfahrungen gemacht und hatte nie ein Problem – mit einer einzigen Ausnahme: Als ich einmal mit Bekannten in einer Kneipe war, wurden wir von einer Gruppe mit Bierdeckeln beworfen. Es waren Neonazis, die uns beleidigen und provozieren wollten. Also bezahlten wir und gingen wieder. Noch heute fliege ich regelmäßig nach Ecuador. Ich habe weiter meine festen Verbindungen dorthin, organisiere Symposien, leite Schnitzkurse mit der Kettensäge. Mein Meister ist nun 97 Jahre alt. Ich möchte ihn unbedingt noch einmal besuchen. Seit ich in Deutschland bin, sehe ich, was Ecuador für ein schönes Land ist. Die Menschen kennen ihre eigenen Stärken noch nicht. Viele denken, dass die USA und Europa besser sind, und imitieren deren Kultur. Eine wirkliche Identität als Ecuadorianer haben wir eigentlich nicht – aber wir haben Wurzeln, die viel älter sind und von den indigenen Kulturen der Inka und noch früherer Völker kommen. Daran sollte man anknüpfen, etwa an die wichtige Verbindung, die diese Vorfahren einst mit der Natur hatten, und die besseren Gesellschaftssysteme.
Heimat: Es gibt den Ort, in dem man geboren wurde, mit einer Sprache, Kultur und Familie, in die man hineinwächst. Und es gibt Orte, an die man kommt und dort eine neue Chance im Leben erhält. Beides ist Heimat. Ich könnte morgen nach China fliegen und auch dort Heimat finden. Wichtig ist die Erfahrung im Leben – wer viel macht, stärkt Kopf und Herz. Ich denke, ich habe viele Erfahrungen gemacht und viel erlebt, wofür ich dankbar bin. Wenn mich aber jemand fragt, ob meine Heimat Deutschland oder Ecuador ist – ganz ehrlich: Ich weiß es nicht. Wenn ich hier bin, möchte ich nach Ecuador reisen. Wenn ich dort bin, habe ich Sehnsucht nach Deutschland. Beides ist Heimat.
Ricardo Villacis (70) ist Bildhauermeister und Lehrer, er malt und schreibt Gedichte. Gerade arbeitet er an seiner Autobiografie und reflektiert über sein Leben. „Früher war ich der Meinung, dass Vergangenheit vergangen ist. Aber jetzt entdecke ich das Interesse an meiner eigenen Geschichte und Kultur“, sagt er. In Barchfeld-Immelborn hat er Arbeitsräume für seine Holzkunst – neben Bildern sind dort sehr viele beeindruckende Holzskulpturen zu finden.